Die Forschungsfelder der Astroteilchenphysik

Theoretische Astroteilchenphysik

Die theoretische Astroteilchenphysik stellt die fundamentalen Fragen im Gesamtzusammenhang dar und unterstützt so die Interpretation der Daten von verschiedenen Experimenten. Außerdem werden neue Theorien entwickelt, die die elementarsten Fragen oder die ungelösten Probleme eines Feldes beschreiben können. Diese Theorien oder Modelle sollen auch Vorhersagen für neue Messungen treffen; eine "Theorie" ist zunächst eine Hypothese, die nicht bewiesen werden kann, sondern durch Messungen widerlegt - und dann verworfen oder angepasst - wird. Beispiele sind Neutrinomassenmodelle, die sowohl die Kleinheit der Neutrinomassen als auch deren weitere Eigenschaften (die für Neutrinooszillationen wichtig sind) beschreiben können, Modelle für Teilchen, aus denen die Dunkle Materie bestehen könnte, oder Modelle für kosmische Teilchenbeschleuniger. Ohne theoretischen Hintergrund ist eine Messung oder Beobachtung häufig nicht interpretierbar. Zum Beispiel wurden Neutrinooszillationen durch deren Energieabhängigkeit gefunden, die durch die entsprechende Theorie postuliert wurde; da massive Neutrinos eine notwendige Zutat dieser Theorie sind, weiß man heute, dass nicht alle Neutrinos masselos (wie zum Beispiel Photonen) sein können. Diese Theorie für Neutrinooszillationen kann heute in jedem entsprechenden Lehrbuch gefunden werden. Das heißt aber nicht, dass so eine Theorie "für immer" gelten wird; werden Widersprüche entdeckt, muss die Theorie erweitert, erneuert oder verworfen werden. Ein schönes Beispiel hierfür ist die dunkle Materie, die einen substanziellen Teil der Energie unseres Universums ausmacht: hier kommen verschiedene plausible Teilchenkandidaten in Frage, von denen vielleicht eines bald entdeckt wird - aber vielleicht muss auch unser fundamentales Verständnis der Gravitation überarbeitet werden?

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Gravitationswellen

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Luftbild des Gravitationswellen-Detektors GEO600, der sich südlich von Hannover befindet. (© Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik/Milde Marketing)
Gravitationswellen lassen sich erst seit 2015 mit speziellem Laserlicht in kilometergroßen Anlagen direkt messen. In Deutschland befindet sich der Detektor GEO600, der gemeinsam mit LIGO (USA), Virgo (Italien) und KAGRA (Japan) ein weltumspannendes Netzwerk bildet. Bereits 90-mal hat dieses Netzwerk die Gravitationswellen von verschmelzenden Schwarzen Löchern und Neutronensternen inzwischen (Stand Januar 2023) beobachtet. Das ist eine vollkommen neue Art der Astronomie: Bislang Unsichtbares lässt sich nun beobachten. Während die herkömmlichen Instrumente in das All hineinsehen, lauschen Gravitationswellen-Detektoren in den Kosmos. Zukünftig werden die Forschenden immer mehr Gravitationswellen beobachten, indem sie bestehende Instrumente verbessern und neue, größere Detektoren auf der Erde (z.B. das Einstein-Teleskop) und auch im Weltall (LISA) bauen.

Weitere Informationen:

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Untersuchung von Neutrinoeigenschaften

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LEGEND-200 am LNGS: Sind Neutrinos identisch mit ihren Antiteilchen? (© LEGEND Kollaboration/M.Willers (TUM))
Neutrinos sind mit weitem Abstand die am häufigsten im Universum vorkommenden Teilchen - ihre Anzahl übertrifft die der Atome milliardenfach. Jeden Kubikzentimeter des Kosmos erfüllen noch heute über 300 Neutrinos aus dem Urknall. Auch aus den Prozessen, die im Sonneninneren Energie freisetzen, erreichen uns auf der Erdoberfläche pro Sekunde etwa 65 Milliarden Neutrinos je Quadratzentimeter. Trotz dieser Allgegenwärtigkeit bekommen wir Neutrinos nicht zu spüren, da sie nur extrem selten mit Materie in Wechselwirkung treten. Dies ist nur eine ihrer besonderen Eigenschaften, die unter anderem dazu geführt hat, dass es von der Einführung der Neutrinos als neue Teilchenart in der Theorie im Jahr 1930 bis zu ihrem ersten Nachweis im Experiment ein Vierteljahrhundert dauerte, und dass uns einige der wichtigsten Neutrinoeigenschaften bis heute offene Fragen aufgeben: Welche Masse haben Neutrinos? Sind sie identisch mit ihren eigenen Antiteilchen? Welche Rolle spielten Neutrinos bei dem heutigen Überschuss an Materie gegenüber Antimaterie, die beide zu gleichen Teilen im Urknall entstanden sind? Gibt es weitere Neutrinoarten, die noch viel schwächer mit Materie wechselwirken als diejenigen, die wir kennen? Heute verwenden Astroteilchenphysiker:innen zur Beantwortung dieser Fragen immer präzisere Forschungsanlagen und arbeiten zur Interpretation ihrer Messdaten eng mit den Kolleg:innen aus der Theorie und Kosmologie zusammen. Zu den Instrumenten gehören z.B. das KATRIN-Experiment in Karlsruhe zur Bestimmung der Neutrinomasse durch Präzisionsmessungen des Betazerfalls von Tritium, oder das LEGEND-Experiment im Gran-Sasso-Untergrundlabor in Italien, welches erstmals den neutrinolosen doppelten Betazerfall nachweisen und damit Licht auf die Natur der Neutrinos werfen soll.

Weitere Informationen und Filme:


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Gigantische Waage für kleinste Teilchen: Das KATRIN-Experiment in Karlsruhe (© KIT / KATRIN-Kollaboration)

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Kosmische Strahlung

kosmische Strahlung
Wasser-Cherenkov-Detektor im Vordergrund in der Pampa Amarilla als Teil des Pierre-Auger-Observatoriums in Argentinien. © Steven Saffi (University of Adelaide)
Kosmische Strahlung wurde bereits vor mehr als 100 Jahren erstmals entdeckt. Dabei handelt es sich um geladene Teilchen (in der Regel Protonen, d.h. Kerne des Wasserstoffatoms, oder schwerere Atomkerne), die ständig aus den Tiefen unseres Universums auf uns herabregnen. In der weiten Ebene der Pampa Amarilla (gelbe Prärie) im Westen Argentiniens untersucht z.B. das Pierre-Auger-Observatorium die energiereichsten dieser Teilchen, die aus allen Richtungen auf die Erde treffen (siehe Bild 3). Die Intensität der hochenergetischen kosmischen Strahlung beträgt nur wenige Teilchen pro Quadratmeter und Tag und ist damit zu gering, um eine Messung von Ballons oder im Weltraum aus zu ermöglichen. Bei den Ereignissen mit den höchsten je gemessenen Energien fällt die Rate auf etwa 1 pro Quadratkilometer und Jahr. Ihre Herkunft ist bisher nicht geklärt und stellt eines der faszinierendsten ungelösten Rätsel der Astroteilchenphysik dar.

Weitere Informationen:

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Nukleare Astrophysik

Die Nukleare Astrophysik befasst sich mit astrophysikalischen Objekten und Phänomenen, für die die Kernphysik wesentliche Grundlagen über Theorie und Experimente liefert. Hierzu gehören die Elemententstehung (Nukleosynthese) und Energiefreisetzung im Inneren von Sternen, Elemententstehung im frühen Universum (Urknallnukleosynthese), Sternexplosionen (Supernovae), Kollaps von Sternen und ihre kompakten Überreste wie Neutronensterne und Schwarze Löcher, sowie Phänomene bei der Verschmelzung von Neutronensternen zu Schwarzen Löchern. Die Reaktionswahrscheinlichkeiten in Kernreaktionen, die für die Energieumwandlung in Sternen und Elemententstehung relevant sind, werden mit kernphysikalischen Methoden an Beschleunigern gemessen. Zum Teil werden diese Messungen an Beschleunigern in Untergrundlaboratorien durchgeführt, um den Untergrund kosmischer Strahlung zu reduzieren. Die Kräfte, die Neutronensterne stabilisieren, hängen fundamental mit unserem Verständnis der Kräfte zusammen, die die Kerne im Inneren von Atomen zusammenhalten. Die "Steifheit" der Neutronenmaterie spielt sowohl bei der Entstehung dieser kompakten Objekte im Kollaps sehr massereicher Sterne eine wichtige Rolle wie auch bei der seltenen Verschmelzung zweier Neutronensterne in einem Doppelsternsystem. Astronomie mit Gammastrahlung im Energiebereich von Kernübergängen liefert die Möglichkeit unmittelbarer Beobachtung verschiedener dieser Phänomene. Solche Teleskope sind weltraumgestützt, da unsere Atmosphäre für Gammastrahlung undurchsichtig ist.

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Gammastrahlungs-Astronomie

Gammastrahlungs-Astronomie
Das H.E.S.S.-Gammastrahlungsteleskop in Namibia (High-Energy Stereoscopic System). Jedes der Teleskope (vier "kleine" mit 12m Durchmesser und ein großes mit 28m Durchmesser) bildet das Licht der Gammastrahlungs-Reaktionen auf je eine Kamera ab, die das Signal mit hoher zeitlicher und Winkel-Auflösung vermisst. (Bildquelle: https://www.mpi-hd.mpg.de/hfm/HESS/pages/about/telescopes/)
Gammastrahlen haben die größte Photonenenergie im elektromagnetischen Spektrum. Sie werden von den heißesten und energiereichsten Objekten im Universum erzeugt, z. B. von Neutronensternen und Pulsaren, Supernova-Explosionen und in Regionen um schwarze Löcher. Gammastrahlen helfen Wissenschaftlern, Rückschlüsse auf energiereiche Prozesse im Universum zu ziehen. Darüber hinaus sind Gammastrahlen ein wichtiges Instrument für die Suche nach dunkler Materie im Weltall. Anders als sichtbares Licht und Röntgenstrahlen können Gammastrahlen nicht von Spiegeln aufgefangen und reflektiert werden. Der Grund dafür ist, dass die Wellenlängen der Gammastrahlen so kurz sind, dass sie den Raum innerhalb der Atome eines Detektors durchdringen können, ohne dabei abgelenkt zu werden. Deshalb bedienen sich Wissenschaftler:innen besonderer Methoden, um Gammastrahlen auf Satelliten oder in erdgebundenen Teleskopen zu beobachten. So kann man zum Beispiel mit großen Teleskopen kurze Lichtblitze nachweisen, die entstehen, wenn Gammastrahlen von komischen Quellen in der Atmosphäre mit Atomkernen reagieren und dadurch gestoppt werden.

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Neutrinoastronomie

Neutrinoastronomie
Schemabild des IceCube-Detektors: An 86 vertikalen sog. "Strings" sind insgesamt 5640 Lichtsensoren angebracht, die die Neutrino-Reaktionen registrieren. Das instrumentierte Eisvolumen befindet sich in einer Tiefe von 1450m bis 2450m, wohin absolut kein Tageslicht vordringt. Die Daten werden im "IceCube Lab" gefiltert und gesammelt und dann "in den Norden" weitergeleitet. (Bildquelle: https://icecube.wisc.edu/gallery/detector/#modulagallery-7032-9784)
Dort, wo die Teilchen der kosmischen Strahlung im Universum auf riesige Energien beschleunigt werden, entstehen auch Neutrinos mit hoher Energie. Das wissen wir, weil wir die Reaktionen von Teilchen, aus denen die kosmische Strahlung besteht, auch in Experimenten an Teilchenbeschleunigern untersuchen können. Wenn zwei solche Teilchen kollidieren, entstehen neue, kurzlebige Teilchen, bei deren Zerfall Neutrinos entstehen. Diese sind ideale kosmische Boten, weil sie auf dem Weg zu uns nicht abgelenkt oder gestoppt werden. Für ihren Nachweis braucht man allerdings riesige Detektoren, damit wenigstens einige der ankommenden Neutrinos darin reagieren und ein messbares Signal erzeugen. Der größte und erfolgreichste solche Detektor heißt IceCube und befindet sich am Südpol. Dort wurde ein Volumen von etwa einem Kubikkilometer Eis mit Lichtsensoren instrumentiert, die schwächste Lichtsignale (einzelne Photonen), wie sie bei Neutrino-Reaktionen entstehen, nachweisen und deren Ankunftszeit mit einer Genauigkeit von einer Milliardstel Sekunde messen können. Aus diesen Daten kann dann auf die Richtung und Energie des Neutrinos zurückgeschlossen werden. Wir nennen solche Detektoren deshalb “Neutrinoteleskope”. IceCube hat in den letzten Jahren mit mehreren Messungen kosmischer Neutrinos bewiesen, dass das Konzept der Neutrinoastronomie tatsächlich funktioniert. Neben IceCube befinden sich zwei weitere riesige Neutrinoteleskope im Aufbau, KM3NeT in der Tiefsee des Mittelmeers und GVD im Baikal-See in Sibirien.

South Pole tour at the IceCube Neutrino Observatory [Englisch]

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Dunkle Materie

dark matter
XENONnT-Detektor, © XENON Collaboration
Wir wissen, dass es im Universum sehr viel Materie gibt, die wir mit astronomischen Methoden nicht direkt beobachten können - sie leuchtet nicht, sie absorbiert keine Strahlung, sie reagiert nicht mit den Teilchen der kosmischen Strahlung. Wir wissen nicht, aus was sie besteht, aber eine plausible Annahme ist, dass es schwere Teilchen sind, die genauso schwach reagieren wie Neutrinos. Wenn das stimmt, müssten solche Teilchen auch im Sonnensystem vorhanden sein und die Erde - uns alle - dauernd durchqueren. Ganz selten könnten sie dabei mit einem Atomkern zusammenstoßen und an diesen gerade so viel Energie übertragen, dass dies in einem Detektor nachweisbar ist. Solche Detektoren zur sog. direkten Suche nach Dunkler Materie müssen bestmöglich gegen Störeinflüsse durch die kosmische Strahlung abgeschirmt werden und werden deswegen tief im Untergrund betrieben, wie z.B. das XENON-Experiment im Gran-Sasso-Labor (siehe auch Neutrinoeigenschaften). Eine zweite, indirektere Möglichkeit, Dunkle Materi zu entdecken beruht darauf, dass Teilchen der Dunklen Materie ihre eigenen Antiteilchen sein könnten und sich deshalb vernichten, wobei Gammastrahlung und Neutrinos entstehen, die mit den entsprechenden Detektoren nachgewiesen werden könnten und uns so verraten, wo es besonders viel Dunkle Materie gibt.

Webseite zum XENON-Experiment

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Niederenergetische Neutrinos

Während die Neutrinos, die mit Neutrinoteleskopen vermessen werden, typischerweise Energien von Milliarden bis Billiarden Elektronenvolt haben, gibt es auch Neutrinos aus dem Weltraum, die nur einen kleinen Bruchteil dieser Energien tragen. Sie kommen z.B. aus der Sonne oder von Supernova-Explosionen und verraten uns, welche kern- und teilchenphysikalischen Vorgänge dort stattfinden. Auch beim Nachweis dieser Neutrinos ist bestmöglicher Schutz gegen Störungen durch kosmische Strahlung notwendig, und auch diese Detektoren werden daher tief unter der Erdoberfläche betrieben. Eines der erfolgreichsten Experimente war “Borexino” (2007 bis 2021) im Gran-Sasso-Labor, mit dem die Neutrinos aus den Kernfusionsvorgängen in der Sonne zum ersten Mal detailliert und vollständig vermessen wurden. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Experimente, die unter anderen darauf warten, dass in unserer Milchstraße eine Supernovaexplosion stattfindet und sie die von dort kommenden Neutrinos vermessen können.Die Vermessung von solaren Neutrinos und der in der Atmosphäre durch Reaktionen kosmischer Strahlung erzeugten Neutrinos mit solchen Experimenten war ausschlaggebend für die Entdeckung und Vermessung von Neutrionooszillationen.

Nino il Neutrino [Italienisch/Englisch]

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